Traumatisierung als Folge politischer Prozesse
Traumatisch wirkt jede Situation, in der ein Mensch erfahren muss, dass er macht- und hilflos ist. Solche Situationen können zufällig sein, wie etwa Naturkatastrophen und Unfälle. Sie können aber auch durch Menschenhand verursacht werden, wie körperliche und sexuelle Gewalt. Die Erfahrung von menschlicher Gewalt wirkt im Vergleich zu zufälligen Ereignissen tiefgreifender. Grausamkeiten, die Menschen während des Krieges und in Gefängnissen sowohl als Augenzeugen als auch als Opfer erlebt haben, bleiben für sie unfassbar - ein namenloses Grauen, das unvereinbar ist mit dem ursprünglichen Glauben an die Existenz von Menschlichkeit und einer gerechten Welt.
Die Erfahrung menschlicher Gewalt wirkt sich auch schwerwiegender auf die Beziehungsfähigkeit der Opfer aus. Traumatisierung als Folge systematischer, politischer Gewalt (Bürgerkrieg, politische Verfolgung und Folter) erschüttert das grundlegende Vertrauen gegenüber Mitmenschen. Dabei treten die physischen Auswirkungen körperlicher Misshandlungen oft in den Hintergrund. Besonders schädlich wirken sich vor allem die Erfahrung gezielter Entwürdigung, Demütigung und Unterwerfung sowie die erlebte Gleichgültigkeit der Täter gegenüber den Opfern aus. Diese ziehen oft massive Folgen für die psychische Gesundheit sowie für das Funktionieren im Alltag und in zwischenmenschlichen Beziehungen nach sich. Der prozesshafte, oft langandauernde Charakter "menschgemachter" Traumatisierung erhöht das Risiko, in der Folge eine psychische Erkrankung zu entwickeln. Bei Flüchtlingen reihen sich zusätzlich traumatische Erfahrungen im Herkunftsland und auf der Flucht und die anhaltende Unsicherheit über den Aufenthaltsstatus im Exilland aneinander. Diese mehrjährige existenzielle Belastung erhöht das Risiko einer Chronifizierung der Beschwerden.
Wie zeigt sich eine Traumatisierung im alltäglichen Leben?
Die Folgen von Gewalterfahrungen zeigen sich auf körperlicher, seelischer und sozialer Ebene:
- Körperliche Symptome
Abgesehen von organischen Verletzungen durch körperliche Misshandlungen bleibt der Körper über Jahre hinweg in einer Art Alarmzustand. Jede Kleinigkeit, die tatsächlich oder entfernt an die traumatischen Erfahrungen erinnert, wirkt wie ein Signal für Bedrohung. Solche Signale können beispielsweise uniformierte Menschen, Nachrichten, Lärm und Enge oder Jahrestage einer Verhaftung sein. Angstreaktionen, wie Herzrasen, Zittern, Angstschweiß, Atemnot, Übelkeit bis hin zu Ohnmachtsanfällen werden dadurch ausgelöst. - Psychische Symptome
Mit diesen körperlichen Reaktionen verknüpft treten fast immer Erinnerungen an die traumatischen Erfahrungen auf. Als Erinnerungen beschreiben alle Betroffenen Bilder, in denen besonders schreckliche Details ihrer Erfahrungen wiederkehren. Manche berichten auch von Erinnerungen, in denen sie Schreie, Schritte und andere mit der Gefangenschaft verbundene Geräusche hören. Auch in den Träumen wiederholen sich Szenen aus den traumatischen Ereignissen. Die Albträume und die vegetative Übererregung im Sinne einer erhöhten Alarmstimmung sind Ursache für über Jahre andauernde Schlafstörungen.
Betroffene leiden darunter, dass sie, wie sie häufig beschreiben, von diesen Erinnerungen und den Angstreaktionen heimgesucht werden, ohne Einfluss darauf zu haben. Ihre einzige Möglichkeit, das Auftreten der Erinnerungen zu steuern, besteht in dem Versuch, Auslöser für diese Erinnerungen zu meiden. Häufig führt das Vermeidungsverhalten zu einer Einschränkung des Handlungsspielraums, vor allem im Freizeitbereich und bei sozialen Kontakten - und damit zu deutlichen Einschränkungen in der Lebensqualität. Die berufliche Tätigkeit, wenn die Betroffenen arbeitsfähig sind, wird immer als Halt empfunden, da sie eine Ablenkungsmöglichkeit bietet und das Gefühl, in der Gegenwart zu sein und gebraucht zu werden. - Soziale Probleme
Die über Jahre andauernde nervliche Übererregung hat oft Reizbarkeit zur Folge und erschwert den Umgang mit starken Gefühlen (z.B. Wut). Diese erhöhte Nervosität führt in Konfliktsituationen oft zu aggressiven Verhaltensweisen und damit zu immer wiederkehrenden sozialen Konflikten und Beziehungsstörungen.
Schutz und Sicherheit hilft
Die Symptomatik als Folge von Gewalterfahrung lässt sich daher zusammenfassend als immer wieder auslösbarer Zustand beschreiben, der den ursprünglichen Angst- und Panikreaktionen während des traumatischen Ereignisses ähnlich ist. Unter der Qual eines unfreiwilligen Wiedererlebens erfahrener Grausamkeiten in Form lebendiger Erinnerungen leiden viele Betroffene über Jahre hinweg.
Wie sehr diese Symptomatik den Einzelnen in der Bewältigung seines alltäglichen Lebens beeinträchtigt, ist ganz besonders von den gegenwärtigen Lebensbedingungen abhängig. Je mehr Sicherheit in der Gegenwart - bei Flüchtlingen etwa durch ein gesichertes Bleiberecht - gewährt wird, desto geringer ist das Gefühl der ständigen Bedrohung, immer noch hilflos und damit schutzlos zu sein. Am Beispiel vieler Betroffener zeigt sich, dass eine eigenständige Lebensführung unter gesicherten Lebensbedingungen trotz körperlicher und psychischer Beeinträchtigung möglich ist.