Therapeutisches Gammeln für Menschen mit Demenz
"Therapeutisches Gammeln für Menschen mit Demenz" (Buchvorstellung)
"Dass ein Leben durch Nichtstun dennoch ein gutes Leben sein kann, das lernen wir von Menschen mit einer Demenz vortrefflich. Wenn ich nichts mehr tun kann, weil ich nicht weiß, was das ist, das Tun, dann empfinde ich das Nichtstun als einzige, mir zur Verfügung stehende Form des Tuns" (Vorwort zum Buch, verfasst von Michael Schmieder)
In seinem Buch "Therapeutisches Gammeln für Menschen mit Demenz" stellt Stephan Kostrzewa einen unkonventionellen Ansatz für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz vor.
Ausgangspunkt ist seine Kritik an der aktivierenden Pflege und Betreuung, deren Zielsetzung die Wiedererlangung verlorengegangener Kompetenzen und Fähigkeiten ist. Er stellt diese Konzepte infrage und vertritt die These, dass Maßnahmen, wie z.B. Gedächtnistraining, Snoezelen, Mandala Malen, usw. keine wissenschaftlich belegte Wirkung haben. Er argumentiert, dass viele dieser Maßnahmen eher dazu dienen, die Pflegenden und die Angehörigen zu beruhigen, als den Betroffenen selbst zu helfen. Statt strenger Tagesstrukturen und durchgetakteter Aktivierungsprogramme plädiert Kostrzewa für mehr Selbstbestimmung und eine entspannte Lebensgestaltung. Das Nichtstun sollte als legitime Form der Selbstbestimmung anerkannt werden. Menschen mit Demenz sollen ihren Alltag selbst mitgestalten können, ohne dass ihnen ein festes Programm aufgezwungen wird.
Gestalter sind die Betroffenen selbst, die Pflege sollte sich stärker auf das individuelle Wohlbefinden konzentrieren, anstatt nur körperliche Bedürfnisse zu erfüllen. Der zu pflegende Mensch steht mit seinen individuellen Bedürfnissen im Mittelpunkt. Die Pflegenden spielen dabei die Rolle eines Begleiters, nicht die eines Dirigenten.
Das Buch ist in sieben Kapitel gegliedert. Das erste Kapitel befasst sich mit Demenz aus einer Außenperspektive. Dabei fällt auf, dass die Erkrankung im Wesentlichen als Summe zunehmender Defizite wahrgenommen wird.
Das zweite Kapitel widmet sich der Wahrnehmungswelt der Betroffenen selbst: Diese ist geprägt von Trauer über die zunehmenden Verluste und geht einher mit Gefühlen von Angst, Unsicherheit und Hilflosigkeit.
Im dritten Kapitel werden aktuelle Expertenstandards kritisch dargestellt. Das vierte Kapitel beschreibt die Bedarfe anderer, wie z.B. von Angehörigen, Mitbewohnern, Pflegenden und Hausärzten, und welchen Einfluss diese auf die Situation der Betroffenen in der stationären Pflege haben. Besonders Angehörige zeigen nach Kostrzewa den größten emotionalen Leidensdruck.
Im fünften Kapitel folgt ein kurzer, kritischer Blick auf Methoden und Angebote für Menschen mit Demenz, vom Gedächtnistraining bis zum Einsatz von Psychopharmaka. Hier stellt Kostrzewa die These auf, dass damit oft die Ohnmacht der Pflegenden und die Trauer der Angehörigen überspielt werden.
Im sechsten Kapitel legt Kostrzewa die Grundlagen für das "Therapeutische Gammeln" dar. Dabei geht es um die Grundhaltung, nämlich eine gewährende Haltung, die die Stärkung und Erhaltung der Autonomie der Betroffenen in den Mittelpunkt stellt. In neun Leitsätzen wird beschrieben, wie das "Therapeutische Gammeln" in den Alltag von Menschen mit Demenz integriert werden kann.
Das siebte Kapitel präsentiert schließlich ein Konzept des "Therapeutischen Gammelns" für die stationäre Altenarbeit.
Das Fazit des Buches lautet: Der Fokus des "Therapeutischen Gammelns" liegt auf dem Abbau des Aktivierungswahns und dem Appell: "Nun lasst sie doch einfach mal in Ruhe!" Die Betroffenen werden mit ihren Bedürfnissen in den Mittelpunkt gestellt. Sie sind die Experten ihrer Demenz und damit Lehrer für die Begleiter. Im stationären Setting ist hier das gesamte Umfeld gemeint, von den Pflegekräften über die hauswirtschaftlich Mitarbeitenden bis hin zu den Angehörigen.
Die Bedürfnisse des Einzelnen und seine Wohlbefindensäußerungen bei bestimmten Angeboten und Aktivitäten lenken das Pflege- und Betreuungsprogramm. Mit standardisierten Beurteilungsverfahren können die Pflegepersonen anhand der Reaktionen herausfinden, ob eine Maßnahme gewünscht ist. Daraus, so Kostrzewa, entsteht ein zirkulärer Prozess: der Versuch eines Angebots - die Erfassung des Wohlbefindens bei dem Betroffenen - ein erneutes (bzw. wiederholtes) Angebot.
Bildlich ausgedrückt stehen Pflegende und Betreuende mit einem großen Bauchladen vor dem Menschen mit Demenz. Dieser Bauchladen ist bestückt mit Angeboten der Pflege, der Betreuung und der Freizeitgestaltung. Aus dieser Angebotspalette wählt nun der Betroffene sein aktuell passendes "Programm". Wichtig hierbei, ist, dass er dieses auch ablehnen darf. Damit drückt er seine Integrität und seine Autonomie aus. Für Stephan Kostrzewa ist die Haltung gegenüber dem Menschen mit Demenz wichtig, eine Haltung, die er mit dem Begriff "Demut" beschreibt und damit eine Einstellung meint, die geprägt ist von Solidarität und der Vorstellung, ganzheitlich Sorge zu tragen.
"Therapeutisches Gammeln" ist ein provokantes, aber notwendiges Buch, das die Pflege von Menschen mit Demenz aus einer neuen Persektive betrachtet. Es fordert dazu auf, die Bedürfnisse der Betroffenen ernst zu nehmen und ihnen mehr Raum für Ruhe und Selbstbestimmung zu geben.
Stephan Kostrzewa "Therapeutisches Gammeln" für Menschen mit Demenz. GRIN Verlag, München